Ein Reisebericht dreier Jugendlicher über den Besuch von Kiew, Tschernobyl (Kernenergiewerk) und Prypjat.
Inhaltsverzeichnis
- Tag 1 – Eine Busfahrt, die ist lustig …
- Tag 2 – … eine Busfahrt, die ist schön
- Tag 3 – Überlebenskampf
- Tag 4 – Die Kiewkarte
- Tag 5 – Kyjiwske metro
- Tag 6 – Im Nirgendwo
- Tag 7 – Elegia
- Tag 8 – Regeneration
- Tag 9 – Nachtwandern
- Tag 10 – Eine Busfahrt, die ist lustig …
- Tag 11 – … eine Busfahrt, die ist schön
Tag 1 – Eine Busfahrt, die ist lustig …
Sonntag, 14:26 Uhr, Abfahrt mit schwerem Gepäck am Stendaler Hauptbahnhof – der Intercity ist beinahe pünktlich. Nach dem Eintreffen im Berliner Bahnhof Spandau gelangen wir – Steffen, Maximilian und Ronny – bereits 15:45 Uhr mittels S-Bahn zum zentralen Omnibusbahnhof. Genügend Zeit, um bis zur 17:35 Uhr geplanten Abfahrt noch einmal die Taschen zu kontrollieren und etwas zu essen.
Als wir um 17:00 Uhr einen Auflauf russisch sprechender Menschen sehen, gesellen wir uns zu ihnen. Bis zur Abreise ist Geduld gefragt, denn die Anzeigetafel hat sich auf „unbestimmte Verspätung“ versteift.
Nach zweistündiger Warterei trudelt 19:30 Uhr der bereits gut besetzte Avtobus ein. Einige Reisende sowie ein temperamentvoller Busfahrer steigen aus. Aufgeregte Rufe, und die Frau, welche sich noch vor einer Minute freundlich mit uns unterhalten hat, beginnt in hartem, russischem Tonfall zu keifen, worauf der Busfahrer gereizt reagiert. Während der zweite Kraftfahrer in die Klagerei einstimmt, übersetzt eine nette Dame kurzerhand: „Die Fahrer ärgern sich über das Gepäck der Reisenden.“ Sie wollen offenbar nicht einsehen, weshalb manche Leute – wie auch wir – mehr als nur einen Koffer oder Rucksack mitzunehmen haben. Auf der Website des Busunternehmens ist jedoch zu lesen, dass die Mitnahme eines zweiten Gepäckstückes gegen eine Gebühr von fünf Euro erlaubt sei. Nach langem „Tetris-Spielen“ (Тетрис) gelingt es den beiden Fahrern, alles zu verstauen – ein weiterer „Stein“, und das Spiel wäre verloren.
Im Bus finden wir keine freien Plätze, doch das interessiert die unter Zeitdruck stehenden Fahrer nicht. Der Avtobus setzt sich in Bewegung. Schließlich bekommen Ronny und Steffen wider Erwarten ganz vorn zwei Plätze, die eigentlich für das Privatgepäck der Busfahrer vorgesehen sind. Dass dies die Kraftfahrer abermals missmutig stimmt, können wir nur erahnen, denn Deutsch oder Englisch spricht keiner von beiden. Maximilian hat keine andere Wahl, als sich in die letzte Reihe zwischen zwei recht Platz einnehmende – allerdings sehr nette – Ukrainerinnen zu quetschen. So also werden wir 1.400 Kilometer verharren müssen.
Maximilians Oberschenkel sind zu lang für den „großzügig“ bemessenen Freiraum zum Vordersitz. Die Beine seitlich zu stellen, verbietet sich zwischen den Ukrainerinnen. Maximilian ergibt sich in die Situation – jedenfalls solange, bis der Mann vor ihm seine Rückenlehne bis zum Anschlag nach hinten ausfährt, um sich für die Nacht einzurichten. Beine anwinkeln und hoch drücken verbleibt als einzige Möglichkeit. Zwei Stunden hält Maximilian diese akrobatische Haltung aus, dann zwingen Schmerzen ihn, sich auf den Boden zu legen – wahrlich eine Wohltat. Dies sorgt für allgemeine Belustigung, die freilich zunimmt, als Maximilian von einer herunterfallenden Ledertasche am Kopf getroffen wird.
Ronny und Steffen ertragen ihre Position, obschon die Knie zu schmerzen beginnen. Leider bietet der mit Gepäck verstopfte vordere Gang keinen komfortablen Liegeplatz. Dass dies unsere letzte ostwärts gerichtete Busreise sein wird, geloben wir im Stillen.
Während des Dahinfahrens offenbaren sich positive Seiten: Es wird viel gelacht und „gute deutsche“ Brot sowie Wodka zum Nachspülen angeboten – ein Teil ukrainischer Mentalität, nehmen wir an. Nach zwanzigstündiger Fahrt wird nur noch nachgespült.
Erwähnenswert ist das Geschick einiger Reisender, aus einer beachtlichen Anzahl von Plastetüten gebratene Hähnchen, Tomaten, Gurken, Zwiebeln, gekochte Kartoffeln, kleine Gewürzstreuer, Eier und viele Dinge mehr hervorzuzaubern und ein vollständiges Menü zu kreieren. Alsbald kriecht ein Duft ukrainischer cuisine impromptue durch unser Gefährt.
Ebenso erstaunlich ist das ukrainische Verständnis von Handgepäck. Als wäre es nicht eng genug, liegt der gesamte Hausrat vieler Reisender im Bus verstreut: Im Gang steht ein riesiger Karton mit Kleidern, Bilderrahmen lehnen quer zu den Sitzen, Kuscheltiere finden in Nischen Platz, und unter Ronnys Sitz liegt eine schwarze, kaum zu bewegende Tasche, die scheinbar niemandem gehören will.
Mittlerweile haben wir die offene Grenze Polens überquert und sind froh, als unser Fahrer zu einer Pause anhält. Er ruft auf Russisch, dass – wie wir schnell merken – der Bus nicht verlassen werden dürfe. Aufregung. Ein silberner Mercedes älteren Baujahrs stoppt kaum eine Minute später neben uns, woraufhin schwere Kisten aus dem zweiten Gepäckraum des Busses umgeladen werden. Jetzt wird klar, weshalb sich die Busfahrer derart über die Reisekoffer und Rucksäcke aufgeregt haben und einige Passagiere die ihrigen beinahe zurücklassen mussten.
Tag 2 – … eine Busfahrt, die ist schön
Den Großteil der Nacht versuchen wir zu schlafen. Wir werden oft geweckt. Maximilian etwa, als seine Beine frieren, und man ihn um Verzeihung bittet, eine Flasche Wodka verschüttet zu haben: „Macht nichts! Ist kein Problem!“, versichert man mit russischem Akzent.
Ein älterer Ukrainer zieht von jedem, der möchte, fünf Euro ein. Maximilian zahlt, Steffen und Ronny stellen sich unwissend. Damit ist klar: Wir sind nicht mehr weit von der Grenze unseres Ziellandes entfernt. Vor der Einreise, müssen wir ein Immigrationsformular ausfüllen. Ronny bittet einen der Busfahrer um Hilfe, dieser aber dreht sich einfach um und verschwindet in seiner Schlafnische unter dem Beifahrersitz.
Warten am Zoll. Der andere Busfahrer verzieht sich mit einem der Beamten in ein Häuschen. Wie durch Zauberei werden unsere Koffer nicht angerührt. Kurz darauf verlässt unser Gefährt den Zoll – 200 Euro leichter.
Als Nächstes werden Ausweise hektisch kontrolliert. Probleme treten während der zweistündigen Aktion nur bei einem Israeli auf, der aussteigen muss, um wohl genauer zu erklären, weshalb er einreisen wolle. Auch sonst wird der jüdische Mitreisende merkwürdig behandelt, muss er doch etwa seinen Sitzplatz hinter dem Busfahrer aufgeben, nachdem dieser ihn grundlos angeschnauzt hat. Die nächsten 20 Minuten muss er stehend verbringen.
Maximilian erfährt hinten im Bus nichts davon. Vielmehr ist er damit beschäftigt, einer Frau zuzuhören, die ihm erklärt, dass er sein Reisegeld unbedingt im Gepäck verteilen müsse, und nicht nur dort, sondern auch am Mann. Zum Exempel drückt sie ihre Brüste zur Seite, und ein paar Scheine quellen hervor. Des Weiteren soll Maximilian die Telefonnummer eines ukrainischen Mädchens aufschreiben, das er unter allen Umständen heiraten müsse …
Die Grenzlinie überschreitend, verlassen wir die Europäische Union und gleichsam die Gegenwart. Etliche Kilometer sehen wir kaum ein Auto, und wenn, dann meist Modelle aus sowjetischen Zeiten mit faustgroßen Rostlöchern, ausgeblichener Lackierung und schwarzem Rauch aus den Abgasrohren. Wir überholen einen von Eseln gezogenen Leiterwagen. Die Straßenränder nahe den Ortschaften sind von Hühnern, Gänsen, Kühen und weiteren Haustieren bevölkert – in Deutschland sicher verboten. Die wenigen Kreisstädte, die wir passieren, scheinen in ihrer Entwicklung vor 20 Jahren stehengeblieben zu sein. Zwischen den Ortschaften bewundern wir die Landschaft, die weit weniger der Forst- und Landwirtschaft zum Opfer gefallen ist als hierzulande. Sie erscheint wilder, natürlicher, größer. Die im Gegensatz zu Deutschland signifikant geringere Siedlungsdichte – 229 Einwohner pro km2 zu 78 – trägt auffallend dazu bei.
Grotesk wirken die Propaganda-Mosaike in den Bushaltestellen aus Sowjetzeiten. Aus diesen Tagen stammen wohl auch die Straßen. Wie ein Ukrainer erzählt, sind die häufig sehr breiten Straßen und Kreuzungen für Militärfahrzeuge gebaut worden. Mit deren Wartung und Reparatur nimmt man es hier jedoch nicht so genau, oder kann es nicht. Offenbar wurden einige Baustellen vergessen – zumindest erwecken abgetragener Asphalt und Maschinen, die sich einheitlichem Rostbraun angleichen, diesen Eindruck.
Montag, 20:30 Uhr: Nach 24-stündiger Fahrt erreichen wir Kiew (Київ) mit einer Zeitverschiebung von plus einer Stunde und Verspätungszuschlag. Da 18:00 Uhr vereinbart war, hatte Ronny noch vor Ankunft eine Nachricht via Short Message Service an unseren Taxi-Fahrer geschickt, damit dieser uns vom Busbahnhof zur Wohnung bringen könne. Wie wir später erfahren würden, kam die Mitteilung nie an. Wir warten, rufen schließlich unsere Kontaktperson, Frau Pistunenko, an, die uns in einfachem Englisch zu verstehen gibt, dass der Fahrer nicht länger verfügbar sei. „Fantastisch!“, meint Maximilian verdrießlich. Unsere Situation verbessert sich nicht, obwohl wir ein Taxi finden, denn der Fahrer dampft nonchalant ab, nachdem er unser nicht vorhandenes Russisch registriert hat. Und nun?
Steffen geht zum Wachthäuschen des Busbahnhofs – auch dort schwierige Verständigung, gleichsam mit Händen und Füßen. Allerdings erweist sich die Navigationssoftware auf Ronnys Mobiltelephon als äußerst nützlich und man besorgt uns kurzerhand einen privaten Chauffeur. Den Preis handeln wir sicherheitshalber vor dem Losfahren aus. Mit einer gefühlten Durchschnittsgeschwindigkeit von 100 km/h, einem Höchstsicherheitsabstand von zehn Zentimetern, völlig normalen Verkehrsordnungsüberschreitungen und vermutlich freundlichen Kommentaren zur Fahrweise anderer, gelangen wir in Rekordzeit zur Wohnung.
Die Bleibe ist gut eingerichtet, orientiert am westlichen Standard, und für Sicherheit ist mit Gittern sowie Stahl-, Code- und Doppeltüren ebenfalls gesorgt. Wir schauen genauer hin: Sicherheitsschlösser „Made in Germany“. Dieses Mal fällt uns kein Grund zum Jammern ein, was wohl auch an unserer Müdigkeit liegt.
Tag 3 – Überlebenskampf
Wir wachen gegen Mittag im Wohn-/Schlafzimmer auf, das wir uns zu dritt teilen, und wünschen gegenseitig einen „dóbry djen“ (добрый день). Die ersten Schritte durch die Wohnung bei Tageslicht bestätigen den guten Eindruck von gestern: große Badewanne, solider Gasherd, angenehme Aussicht vom verglasten Balkon. Das Leitungswasser allerdings schmeckt nach Chemie – vermutlich ist die hohe Dosis Chlor hier erforderlich.
Das Frühstück – eher Mittagessen – muss warten. Keiner hat Essbares oder ukrainisches Geld für den ersten Tag mitgenommen. Daher suchen wir zunächst über unseren Breitband-Internet-Anschluss, 8~kByte/s, eine Wechselstube. Eine soll sich gleich um die Ecke befinden, doch können wir sie im „real life“ nicht finden. Wir gehen eine Hauptstraße hinunter, vorbei an alten Häusern und modernen Hotels. Was auffällt: fast alle Menschen sind schlank und chic gekleidet. Es gibt keine Radwege, keine Radfahrer, dafür eine ordentliche Anzahl Autos auf improvisierten Parkplätzen. Wir entdecken reichlich Porsche, Hummer (auch als Stretchlimousine), Ferrari, Maybach und Lamborghini. Wer hier BMW, VW oder Mercedes fährt, scheint zur einfacheren Gesellschaft zu gehören. Für die Abenteuerlustigen klappern die betagten Oberleitungsbusse durch die Straßen. Bei einem der Trolleys wurde sogar die seitliche Motorraumabdeckung geöffnet, um die Kühlung zu verbessern – so fährt dieser sicher weitere 40 Jahre. Das Einsteigen erweist sich als knifflig, denn eine Haltestelle suchen wir vergebens.
Mittlerweile haben wir ein Hotel gefunden, in dem wir Euro gegen Hrywnja (Гривня) tauschen – interessanter Weise unter starken Sicherheitsvorkehrungen. Uns fällt es nicht leicht, im Kyrillisch-Gewirr eines nahegelegenen Supermarkts all die Dinge zu finden, die man fürs Überleben im Großstadtdschungel benötigt. Mit gefüllten Plastiktaschen sind wir zwei, drei Stunden später wieder im Apartment.
Zum Abschluss des Tages besuchen wir ein Selbstbedienungs-Pizza-Schnellrestaurant. Zum Glück kann wenigstens eine der jungen, hübschen Frauen der Bedienung Englisch verstehen. Wir bestellen drei große Pizzen mit individuellem Belag. Für umgerechnet 16 Euro – inklusive Trinkgeld – genießen wir unser Abendessen, auch, wenn es nicht ganz der ukrainischen Küche entspricht.
Tag 4 – Die Kiewkarte
Gut erholt, nehmen wir uns für diesen Tag vor, das bereits in Deutschland „sorgfältig“ erstellte Kulturprogramm abzuarbeiten. Mit Video- und Spiegelreflexkamera sowie diversen Objektiven und Stativen – nebst Pfefferspray – verschwinden wir im morgendlichen Trubel. Die Autos, die am Abend allesamt von ihren „Parkplätzen“ verschwunden waren – wir ahnen weswegen –, verweilen wieder nach ukrainischer Art auf, an und neben den Bürgersteigen. Die Polizei zeigt mit schätzungsweise 30 verschiedenen Sirenenarten – eigentümlich synthetisierten Geräuschen – sowie kurz aufleuchtendem Blaulicht Präsenz. Uns kommt der Verdacht, dass die uneinheitlich Uniformierten in ihren Autos verschiedener Marken und Lackierungen stets eine freie Spur im Blechgedränge suchen.
Bevor wir die aus dem Reiseführer ausgewählten Sehenswürdigkeiten bestaunen können, müssen wir uns eine Stadtkarte besorgen – fürs Smartphone haben wir keine detaillierte gefunden – dafür sorgt der Комитет государственной безопасности (KGB). Leichter gedacht als getan: Zwar können wir einen Buchladen, der mit Kartenmaterial wirbt, ausmachen, doch wie man uns dort freundlich erklärt, habe man keine Stadtpläne von Kiew. Wir müssten nur fünf Minuten Richtung Norden in ein anderes Geschäft gehen. Aus fünf Minuten werden eineinhalb Stunden, bis wir nach Abschreiten verschiedener Paradestraßen auf einen vielversprechenden Kiosk stoßen. Nachdem eine Babuschka ein – offenbar wichtiges – fünfzehnminütiges Gespräch mit der Verkäuferin geführt hat, erwerben wir in „Zeichensprache“ und mit „njet“ (нет) und „da“ (да) endlich unsere Карта Київ – die Stimmung hebt sich.
Als Erstes steht die Sophienkathedrale (Софійський собор) auf dem Plan. An diesem etwas diesigen Tag sticht sie mit ihren vergoldeten Kuppeln schon von weitem hervor. Das mit hellem Mauerwerk abgeschirmte Gelände der orthodoxen Kirche betreten wir durch das Haupttor des imposanten Glockenturms und befinden uns sogleich in einer kleinen Oase inmitten urbanen Treibens. Der gut gepflegte Park, in dessen Mitte das Hauptgebäude der Kathedrale mit den Kuppeln steht, lädt zum Verweilen, Besichtigen und Photographieren ein.
In der Grünanlage hören wir zwischen fremdartigem Vogelgezwitscher und monotonem Großstadttaubengurren einem ukrainischen Barden beim Spielen auf seiner Bandura zu. Zuletzt steigen wir den Glockenturm hinauf und nehmen Kiew aus 30 Metern Höhe in Augenschein. Ergebnis: eine Panoramaphotographie.
Nächste Station ist der Majdan Nezaležnosti (Майдан Незалежності) – der berühmte „Platz der Unabhängigkeit“. Von nationalem Stolz zeugt das erst 2001 erbaute 63 Meter hohe „Monument der Unabhängigkeit“, für das ein granitener Lenin den Sockel räumen musste. Das ehemalige Hotel „Moskau“ ziert heute die prunkvolle Aufschrift „Готель Україна“ (Hotel Ukraine). Einzig das „Haus der Gewerkschaften“ versprüht ein wenig sowjetischen Charme. Auf dem Platz selbst: Menschen, Menschen, Menschen. Es scheint, als fände die allgegenwärtige Rastlosigkeit Kiews hier ihren Höhepunkt.
Trotz des nach unserem Leben trachtenden Verkehrs auf den umliegenden Straßen suchen wir nach einer Möglichkeit, diese unbeschadet zu überqueren. Letztlich unterqueren wir sie. Der Platz ist mit einem Untergeschoss versehen, von dem man durch großzügige Tunnel nicht nur auf andere Straßen gelangt, sondern auch ins Zentrum des Souterrains. Dort treffen wir unerwartet auf ein anderes Kiew: Stößt man oben auf kleine Geschäfte, Restaurants und Cafés mit moderaten Preisen, scheint sich hier die Schickeria und Bonzokratie ein Refugium geschaffen zu haben. Neben Modeboutiquen und Parfümerien mit exorbitanten Preisen finden wir Läden, die überteuerte Sonnenbrillen, Edelsteine und weitere lebenswichtige Güter anbieten.
Dem Untergrund entflohen, lauschen wir kurz Klavierklängen aus dem Konservatorium, während wir durch einen Park auf eine Anhöhe gelangen. Inmitten eines einem Amphitheater gleichenden Platzes steigt ein grau-metallener Regenbogen empor. Unter dem „Bogen der Völkerfreundschaft“ befindet sich ein nicht weniger kolossales Relikt sowjetischer Baukunst: zwei steinerne Menschen, die gemeinsam ein Hammer-und-Sichel-Emblem emporstrecken. Ein paar Meter weiter überblicken wir Kiew und bestaunen den Dnepr (Дніпро) mit seinem sonderbar weißen Ufern.
Nach ungefähr fünf Stunden Wanderei finden wir unsere Unterkunft dank der analogen Navigationsapparatur recht schnell wieder. Wir sind in freudiger Erwartung, unsere Mägen füllen zu können. Es soll Eierkuchen mit Apfelmus geben. Allerdings scheint es Malus domestica weder in den Alkoven der Supermärkte noch in den verstreuten Tante-Emma-Läden als Mus zu geben. Ronny beginnt mit den Vorbereitungen des „komplexen“ Vorgangs der Eierkuchenzubereitung und stellt dabei aufgrund einer Konsistenzüberprüfung fest, dass das gestern gekaufte Mehl keines ist. Tatsächlich ist es Soda, wie wir nach Prüfung des kyrillischen Schriftzuges via World Wide Web herausfinden. Maximilian geht echtes Mehl kaufen, und nach halbstündigem Braten genießen wir die Spezialität – ein wenig Heimat im neuen Osten.
Tag 5 – Kyjiwske metro
Wir brechen zum zweiten Kirchenbesuch auf. Nachdem wir einige Treppenstufen hinauf gestiegen sind, stehen wir vor einer verschlossenen St.-Andreas-Kirche (Андріївська церква).
Man hätte es ahnen können: Das Baugerüst am Fuße des Gotteshauses ist ja auch gut zu sehen. Als wir zurückgehen, kommt uns ein Wachmann entgegen. Griesgrämig wirft er russische Wörter um sich. Wir zucken die Schultern und Ronny sagt: „No Russian, English only.“ Neue Opfer erblickend, marschiert der Wächter gleichgültig weiter.
Im idyllischen Altstadtambiente des Andreassteigs (Андріївський узвіз), in dem schon früher die Künstler Kiews ihre Ateliers hatten, schlendern wir die gepflasterte Straße hinunter, vorbei an unzähligen auf dem Gehweg positionierten Souvenirläden. Neben Produkten (scheinbar) ukrainischer Tradition erspähen wir Stahlhelme, Propagandablätter, Karten und Orden mit den unverkennbaren Symbolen des Dritten Reiches – wir sparen unsere Hriwnji.
Eine kunstvoll aus Holz und Stahl gebaute Treppe, die zu einer Anhöhe führt, hat wohl seit langem keinen Besuch von der Bauaufsicht bekommen. Wir erklimmen die Stufen, obschon das Knacken – eher Brechen – und fehlende Geländerpfosten zur Umkehr auffordern. Allerdings haben wir gelernt: Die Dinge in der Ukraine sind weitaus robuster, als der Anschein zuweilen vermitteln mag. Der Wagemut wird mit einem Ausblick, der zum digitalen Festhalten nötigt, belohnt.
In Vorbereitung auf den kommenden Tag besichtigen wir das Tschernobyl-Museum. Der Kauf der Tickets und das Ausleihen des tatsächlich nicht analogen Audioführers laufen problemlos in Englisch ab. Der Rundgang ist aufschlussreich, wozu die ausführlichen Erläuterungen des handlichen – tatsächlich Deutsch sprechenden – Begleiters beitragen. Der Akzent und die besondere Grammatik tragen zur Stimmung des Museums bei. Wir staunen über die ausgefeilte, mechanische Darstellung von Informationen: Ein detailliertes Modell des Kernenergiewerkes und eine Spiegelprojektion des Unfallablaufs – wahrscheinlich kurz nach den Tagen des Zwischenfalls konstruiert – sind wahre Blickfänger. An dieser Stelle soll das äußerst höfliche Wachpersonal nicht unerwähnt bleiben, das einem hartnäckig auf Russisch oder Ukrainisch zu verstehen gibt, dass die Bedienung der Modelle explizit nicht in den Aufgabenbereich des Besuchers fällt – jedenfalls interpretieren wir so den minutenlangen „Monolog“ einer älteren Museumsdame, nachdem Maximilian in seiner Neugier den roten Knopf gedrückt hat.
Zur Mittags- oder vielmehr Kaffeezeit essen wir auf einem Markt für umgerechnet fünf Eurocent ukrainischen Kuchen vom Lande. Wir beobachten dabei, wie eine Schaffnerin durch Heben und Senken des Stromabnehmers versucht, ihre Tatra-Straßenbahn zu reanimieren.
Für die Passagiere scheint dies nicht ungewohnt. Doch auch die geduldigsten müssen sich nach etwa 20 Minuten eingestehen, dass sie sich ein anderes Großstadtgefährt suchen müssen, und steigen aus.
Um unseren Reiseradius in Kiew zu erweitern, entscheiden wir uns nun für die Kiewer Metro (Київське метро). Nach Verständigungsschwierigkeiten am Schalter benutzen wir erfolgreich einen Automaten, welcher jedoch ebenso wenig auf Englisch informiert wie das hübsche Fahrkartenfräulein. Die einzelnen Stationen sind auf den Schildern ausschließlich kyrillisch beschriftet, dennoch fällt es nach visuellem Abgleich der Zeichen leicht, die Station „Botanischer Garten“ zu finden. Nicht leicht gestaltet sich das Einsteigen in die eigentliche Untergrundbahn. Wir befürchten, die Metro wird ihre Fahrgäste mit geöffneten Türen transportieren müssen.
Ein im Intimabstand befindliches Mädchen erkennt uns als Deutsche und spricht uns sogleich an. Die angenehme Plauderei, in der wir erfahren, dass sie in Stuttgart studiere und nur zu Besuch sei, hält bis zur Station „Universität“. Im Übrigen hatten wir gestern ein ähnliches Erlebnis: Ein Mann fragte unbefangen und ohne ersichtlichen Grund, ob wir Informatikstudenten aus Deutschland seien. Wir sind verdutzt gewesen, denn für Steffen und Ronny trifft es zu.
Nachdem wir ein Toilettenhäuschen deutlich wahrgenommen und einen in das Naturbild „nahtlos“ eingearbeiteten, eckigen Beton-Teich in Russisch-Blau bestaunt haben, verlassen wir den Botanischen Garten. Ein paar Schritte, und wir sehen hohe Gewächshäuser. Offenbar sind wir nicht im Botanischen Garten gewesen.
Auf dem Rückweg wollen wir schnell ein paar Lebensmittel für ein Nudelgericht besorgen. Da es ohne Jagdwurst unvorstellbar ist, suchen wir lange nach einem passenden Laden, denn Supermärkte gibt es in der Innenstadt kaum. Dafür kleine Geschäfte, die vielleicht 75 Prozent Spirituosen und 25 Prozent Nahrungsmittel anbieten. Diese 25 Prozent unterscheiden sich von Laden zu Laden, sodass es eine Weile dauert, bis alles zusammengesucht ist. Wir kaufen sechs Ein-Liter-Wasserflaschen und 1,5 Kilogramm Salz für umgerechnet 30 Cent und eine kleine Schinkenwurst für 5,10 Euro. Allgemein sind inländische Waren preiswert, dagegen sind Importwaren am deutschen Preisniveau zu messen. Wurst- und Käsewaren sind teuer – verglichen mit unserem Fleischland. Man sollte sich der ukrainischen Spezialitäten bedienen und gleichzeitig seinen Tierkonsum senken.
Tag 6 – Im Nirgendwo
Kurz vor 9 Uhr: Treffen mit einem Agenten auf der Straße vor unserem Apartment. Er prüft unsere Dokumente, nimmt den ausstehenden Betrag entgegen und erklärt, dass wir alsbald abgeholt würden. Einige Minuten später fährt ein schwarz lackiertes Auto vor. Der Fahrer lässt die getönte Seitenscheibe herunter und nickt. Wir steigen ein. Der VW-Transporter neuester Generation setzt sich mit leicht quietschenden Pneus in Bewegung, auf nach Tschernobyl (Чорнобиль) – hoffentlich! Während der Fahrt spüren wir die personalisierten Verkehrsregeln:
- Die Hupe ist möglichst oft zu betätigen, um Anwesenheit zu signalisieren.
- Anschnallen ist unter allen Umständen zu unterlassen – das verhindert Gurtverschleiß und erhöht den Wiederverkaufswert des Autos.
- Gas- und Bremspedal sind immer bis zum Anschlag zu treten. Dies ermöglicht die ständige Überprüfung der Funktionalität von Motor und Bremsen.
- Ein Sicherheitsabstand von höchstens fünf Zentimetern ist stets einzuhalten. Somit passen mehr Fahrzeuge auf die Straßen. Falls der Vorausfahrende ohne Warnblinker bremsen sollte und Sie dadurch in die Bredouille geraten, ist eine maliziöse Wortwahl Pflicht.
- Das Rot der Ampeln ist als Option zu verstehen. Denn gibt es persönliche Gründe für eine Weiterfahrt, ist diese natürlich gestattet. Hierbei haben die bei Grün fahrenden Verkehrsteilnehmer Rücksicht zu nehmen.
- Gibt es an einer Kreuzung nur zwei Einordnungsspuren, ist es erlaubt, eine dritte Spur auf der Gegenfahrbahn zu eröffnen.
- Soziale Kontakte sind auch während der Fahrt zu pflegen. Daher wird ausdrücklich empfohlen, Mobiltelephone zu benutzen, und wenn verfügbar, zwei zur selben Zeit. Dies verbessert zusätzlich die Bein-Lenkrad-Interaktion und schärft die Sinne.
- Es wird empfohlen, bei Gegenverkehr zu überholen. Das ist sicherer. Der Entgegenkommende wird aufgrund eines evolutionär erworbenen Verhaltens stets für genügend Platz sorgen.
- Die Mindestgeschwindigkeit innerorts beträgt 80 km/h. Damit wird ein zügiger Verkehr aktiv unterstützt. Die außerorts beträgt 140 km/h – 120 km/h im Falle von Asphaltlücken.
Einige Kilometer außerhalb Kiews lichten sich Wohnsiedlungen und Verkehr. Asphaltstraßen verwandeln sich wieder in die einst prächtigen Plattenparadestraßen. Schweigend grüßen und ermahnen uns Betongenossen, die in beinahe jedem Dorf stehen. Ebenso versuchen Malereien in den Bushaltestellen mit letzter Kraft, uns von der kommunistischen Idee zu überzeugen, indes unzählige Werbeplakate opponieren.
Kurz nach halb elf hält unser Wagen vor einer rost-rot-weißen Schranke. Wir befinden uns an einem Kontrollposten der 30-Kilometer-Sperrzone. Von hier ist der am 26. April 1986 durch eine Kernschmelze zerstörte Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl (Чорно’бильська АЕС) etwa 30 Kilometer entfernt. Die erhöhte Radioaktivität können wir nur erahnen. Im Boden, in den Pflanzen befindet sich eine unnatürlich große Menge Cäsium-137, Plutonium-242 (Halbwertszeit: 375.000 Jahre) und anderer hochradioaktiver Elemente, die bei der Explosion des Kernreaktors vom Typ RBMK-1000 und anschließendem Graphitbrand ausgetreten sind. Bei der Explosion hob sich der eine Kilotonne schwere Deckel des Reaktors aus seiner Verankerung und das Dach des Reaktorgebäudes wurde dabei so beschädigt, dass der Kern frei lag.
Unsere Dokumente und Genehmigungen werden von einem Soldaten kontrolliert. Etwas später wird die Eisenbarrikade mit Muskelkraft geöffnet. Auf der Straße zur Kleinstadt Tschernobyl (Чорно’биль) begegnen wir alten Frauen. Wir müssen an die über 100.000 Menschen denken, die evakuiert worden waren. Die mehr als 49.000 Einwohner der im Zuge des Kraftwerkbaus gegründeten Stadt Prypjat (Прип’ять) wurden erst 36 Stunden nach dem Reaktorunfall gerettet. Innerhalb von zweieinhalb Stunden brachten damals 1.200 Busse die Einwohner, die an eine baldige Rückkehr glaubten, ins minder kontaminierte Umland. Wenige sahen ihre Wohnung, ihre Heimat wieder. Die trotz des offiziellen Verbots zurückkamen, leben heute in kleinen Gemeinschaften und werden hin und wieder von Ärzten und der Miliz mit dem Nötigsten versorgt. Für einen Neuanfang hatten diese alten Menschen weder Energie noch Geld. Sie ernähren sich von Selbstangebautem, das mit radioaktiven Elementen kontaminiert ist, und sterben früher oder später an den Folgen der dauerhaften äußerlichen sowie innerlichen Strahlung – dem Preis für die Heimat.
Wir lassen die Geduldeten hinter uns. Nach etwa 45 Minuten erreichen wir Tschernobyl-Stadt. Es ist der letzte belebte, dennoch leblose Ort um das havarierte Kraftwerk. Vor der Kulisse Jahrzehnte alter Schilder und einsturzgefährdeter Bauten verbringen Arbeiter und Einheimische ihre „Freizeit“. Rostende Reklametafeln der 80er Jahre fristen ihr Dasein im Einklang mit provisorisch eingerichteten Gebäuden.
Unser „Katastrophenreiseführer“, Maxim, erwartet uns bereits in Volltarnung – eine Notwendigkeit, die sich uns nicht erschließt. Er bringt uns in ein Quartier. Wir erhalten Informationen über den Unfall und die Sperrzone – allerdings nichts Neues, offenbar touristisches Programm. Nun: Belehrung und Verzichtserklärung unterschreiben. Hier haftet niemand für unmittelbare oder Langzeitschäden.
Im Anschluss bekommen wir in einer durchaus gemütlichen Kantine Mittagessen. Die ukrainische Bedienung bewirtet uns mit Eiern, Mischbrot, Mohrrübenrohkost, Krautsalat, Wurst, gefüllten Hörnchen, Knoblauchbrot, Kartoffeln und einigem mehr – alles Importware, wie versichert wird. Während wir uns an dem Angebot gütlich tun, wird mit Käse überbackener Fisch aufgetischt. Es folgen eine Suppe mit Roter Bete und ein Fleischstück mit Kartoffelstreifen.
Auf dem Programm der Besichtigungsfahrt steht als Erstes ein Ort, den Maxim als „Museum“ bezeichnet. In der Tat finden wir dort ordentlich aufgestellte Räumfahrzeuge. Diese ketten- und rad-panzerartigen Maschinen haben einst radioaktiven Schutt geräumt und vergraben. Der im Rost der Fahrzeuge gebundene Staub lässt Maxims mit Klebeband stabilisierten Geigerzähler Alarm schlagen. Ein Abstecher zu einer Wasserstelle mit vor sich hin oxidierenden Schiffen beendet unsere „Rundfahrt“ in Tschernobyl-Stadt.
Schon von weitem kann man die vier fertigen und die zwei nicht vollendeten Reaktorgebäude nebst Kühltürmen inmitten einer Graslandschaft erkennen. Etliche Hochspannungsleitungen vermitteln ein Bild der circa 3,5 Gigawatt elektrischen Leistung, die die Blöcke 1 bis 4 zeitweilig lieferten. Die im April 1986 eingetretene Kernschmelze und Explosion des Reaktorkerns im Block 4 reduzierte die Leistung auf etwa 2,5 Gigawatt – tatsächlich liefen die Blöcke 1 bis 3 noch bis 1996, 1991 bzw. 2000. Der Bau der Blöcke 5 und 6 wurde zwei Jahre nach dem Unfall endgültig eingestellt – korrodierende Krane umstehen noch heute die halbfertigen Reaktorgebäude.
Wir befinden uns etwa 100 Meter vor Block 4.
Deutlich sichtbar: herunterlaufender Rost am provisorischen Sarkophag. Dieser bis November 1986 errichtete Stahlbeton-Mantel wird voraussichtlich von 2011 bis 2015 durch einen robusteren ersetzt werden – eine notwendige Maßnahme, wie unser klagender Geigerzähler zeigt. Äußerlich sieht man keine Spuren der Explosion, innen lodert das radioaktive Feuer.
Wir halten das Monument und das davor platzierte Denkmal photographisch unter scheinbarer Berücksichtigung der Vorschrift, dass ausschließlich diese beiden Objekte abgebildet werden dürfen, fest. Das Weitwinkelobjektiv sieht mehr.
Nachdem unsere Gerätschaft zusammengepackt ist, machen wir uns auf den etwa vier Kilometer langen Weg nach Prypjat. Der aus Beton geformte Schriftzug „ПРИПЯТь“ deutet in strahlendem Weiß darauf hin, dass wir den Ortseingang erreicht haben.
Die metallenen Lettern „1970“ erinnern daran, wie jung Prypjat zurzeit des Unfalls gewesen ist.
Zwischen Wald und Stadt können wir keine deutliche Grenze erkennen. Zu beiden Seiten der Straße gedeihen Bäume und Buschwerk unmittelbar neben hohen, fensterlosen Plattenbauten. Pyramidenpappeln stoßen aus Gehwegen hervor – es fällt schwer, urbane Strukturen ausfindig zu machen.
Während wir staunend aus dem Auto schauen, teilt Maxim uns mit, dass er uns nicht weiter begleiten könne, da er unerwartet wichtigere Personen in der „Basis“ treffen müsse. Er möchte uns an einen Führer weiterreichen, der mit einer Gruppe Touristen die „Sehenswürdigkeiten“ abgeht. Wir sind verärgert – schließlich musste Ronny seine Kreditkarte für eine Privattour hoch belasten. Was aber sollen wir inmitten eines radioaktiven Sperrgebiets anderes tun, als uns zu beugen?
Maxim führt uns auf Wunsch zu einem am Stadtrand gelegenen Hochhaus. Um das Dach zu erreichen, steigen wir sechzehn Stockwerke hinauf – einen Fahrstuhl hat es nie gegeben, und selbst wenn, funktionierte er gewiss nur mit elektrischer Spannung. Der Ausblick auf Prypjat ist das Risiko und die Mühe allemal wert. Es entsteht der Eindruck, dass inmitten eines riesigen Waldes Häuser gewachsen sind – Straßen und Wege sind vom Grün verborgen. Am Horizont nehmen wir den bläulich umschimmerten Block 4 und dessen rot-weiß gestreiften Schornstein wahr.
Durch eine Luke gelangen wir zurück ins Treppenhaus, und während des Abstiegs machen wir Abstecher in die Wohnungen. Nahezu alles geplündert – nur noch Flaschen, Gerümpel, zerbrochene Fenster und alte Tapeten.
Unten angekommen, kehren wir zurück zum Wagen, genauer: zum Platz, auf dem er vor kurzem noch gestanden hat. Maxim und der Fahrer sind weg. Einige Minuten belustigt uns die Situation: „Jetzt werden wir hier übernachten müssen“, „Wölfe werden uns zerreißen“, „Wir werden verhungern“, … Gott sei’s gedankt, Ronny hat sein Mobiltelephon dabei – unsere Rettung. Doch keine Rettung, da Funkloch. Wir schweigen, lauschen dem Rauschen der Blätter, den unhörbaren Geräuschen einer Stadt.
Wir beschließen, die Straße, auf der wir zum Hochhaus gelangt sind, zurückzugehen. Vielleicht treffen wir die Gruppe, von der unser abtrünniger Reiseführer berichtet hatte. Nachdem wir einige Meter durch die Endzeitstadt gewandert sind, kommt uns ein bekanntes Fahrzeug entgegen. Wir steigen ein und warten, was passiert.
Unser Fahrer bringt uns zum Ersatzführer. Jener zeigt uns einen zugewucherten Eingang, den zur Schwimmhalle. Dann verlässt er uns – aufs Neue freigelassen! Wir gehen über gesprungene Fliesen und zerborstenes Fensterglas, bis das Schwimmbecken entdeckt ist. Bäume und Gebüsch wachsen durch einstige Glaswände, von der Hallendecke hängen undefinierbare Baustoffe, korrodierende Geländer, abblätterndes Blau an Wänden. Wir stellen uns vor, wie Schwimmer von den massiven Startblöcken 1 bis 5 um die Wette schwammen, als die Wettkampfuhr noch lief, oder Luftrollen vom Betonsprungturm vollführt wurden.
Wir kämpfen uns durch den Schutt zurück in den Sonnenschein. Unser Fahrer setzt uns am Vergnügungspark ab. Die ungleichmäßig verteilten Fahrzeuge im dachlosen Autoskooter erwecken den Eindruck, als wären noch Minuten vor der Explosion Menschen hier fröhlich ineinandergefahren. Auch das Riesenrad mit gelben Gondeln und rostiger Stahlverstrebung hätte eine nette Ablenkung im Alltag sein können – die Attraktionen wurden nie eröffnet. Sie waren für die Feierlichkeiten zum Ersten Mai aufgebaut worden.
Den Betonplatten folgend, lassen wir uns auf „Kultur“ im Palast „Energetik“ (Дворец культуры „Энергетик“) ein. Wir betreten einen Vorlesungssaal, ein Theater, finden russische Bücher und betrachten farbenreiche Sowjet-Propaganda – alles marode und zerfallen.
Aus den großflächigen Fenstern nehmen wir den imposanten Vorplatz in Augenschein – abermals: Bäume wachsen aus dem Asphaltboden.
Wir erklimmen das oberste Geschoss. Im Gegensatz zu anderen Gebäuden sind die Plünderer hier zurückhaltend gewesen: Auf weißen Marmorplatten stehend, betrachten wir erneut die untergehende Stadt. Ein Stockwerk tiefer gedeiht eine Birke direkt in einem Zimmer – offenbar werden die Gebäude auch von innen zurückerobert.
Ein Plattenbau ist nicht weit entfernt vom Vorplatz. In einer Art Foyer sind unzählige Möbelstücke und andere Einrichtungsgegenstände sorglos gestapelt. Maximilian versucht sich an einem Klavier – es ist nicht gestimmt. Ronny betrachtet das Schwarzweißbildnis eines Beagles. Der betrübt dreinblickende Hund schien das Unglück geahnt zu haben.
Nachdem wir Prypjat verlassen haben, können wir uns im Quartier in Tschernobyl-Stadt ein wenig stärken und eventuell strahlenden Staub abklopfen. Wir steigen in unser Fahrzeug und nach kurzem Halt an einem sowjetischen Magazin passieren wir die Grenze zur Außenwelt. Unser Auto wird am Kontrollpunkt auf strahlende Partikel geprüft – wenn auch nur die Räder der rechten Seite. Wir werden ins Grenzgebäude geführt und müssen durch eine Schleuse treten, in der wir auf Strahlung getestet werden. Glücklicherweise ist das Gepäck im Auto und es besteht daher ganz sicher keine Gefahr einer festzustellenden Kontamination.
Die Fahrt nach Kiew verläuft nach bekanntem Schema. Eine Katze und eine Babuschka müssen beinahe das Zeitliche segnen.
Tag 7 – Elegia
Kaum, dass wir am späten Vormittag aufgestanden sind, klingelt das Telephon. Frau Pistunenko meldet das Erscheinen einer Putzfrau in „one and a half hour“ an. Eine halbe Stunde später klopft ihr Mann an der Tür. Noch während wir hastig unsere Siebensachen zusammensuchen, beginnt Herr Pistunenko mit der Reinigung.
Wir gehen einkaufen. Mittlerweile glauben wir, eine weitere Eigenheit herausgefunden zu haben: Der Aufdruck eines Verfallsdatums ist pro forma. Abgelaufene Lebensmittel müssen nicht aus den Regalen genommen werden, der Kunde hat schließlich Augen im Kopf. Außerdem schmecken Marmeladen selbst nach über einem halben Jahr Ladenhüterei ausgezeichnet, wie Maximilian später feststellen wird.
Wir versuchen erneut unser Glück mit dem Botanischen Garten – kein Eingang zu finden. Dem Bessarabischen Markt (Бессарабский рынок) mit seiner Fülle an Obst, Gemüse, Blumen, Fisch und vielem mehr, können wir heute nichts abgewinnen. Nach einigen Kilometern landen wir in der Pizzeria von neulich.
Der angebrochene Abend wird im Apartment verbracht.
Tag 8 – Regeneration
Der Strom Dnepr teilt Kiew und lässt einige Inseln zwischen dem West- und Ostteil entstehen. Diese sind für städtische Verhältnisse wenig bebaut und bieten mit Waldflächen und Sportplätzen Naherholung. Die Metro bringt uns über einige Stationen in den Hidropark (Гiдропарк), der eine ganze Insel umfasst. Das gelbsandige Ufer und die Nadelbäume auf der Insel erinnern an heimische Badekiesgruben. Ein paar Mutige trauen sich ins Wasser – warm und sonnig genug ist es allemal. Uns macht das Rostrot skeptisch. In einer Freiluftmuskelschmiede mit teilweise improvisierter Gerätschaft, Basketball- und Fußballplätzen kann man die nächsten Champions der Ukraine beobachten.
Tag 9 – Nachtwandern
In aller Frühe dieses Montages (halb eins) gehen wir auf Beutezug – in nächtlicher Stadt sind Photographien meist stilvoller als zur üblichen Geschäftszeit. Vorbei an rückwärtsessenden Gestalten schleichen wir durch schwarze Gassen und schlendern über hellbeleuchtete Plätze. Belohnung: elegant beleuchtete Gebäude, kein Verkehr, keine Menschenmasse.
Das Bonbon ist der Blick von einer hochgelegenen Plattform am Dnepr auf die Innenstadt.
Eine Begegnung der besonderen Art ereilt uns auf dem Rückweg: Ein Rudel herrenloser Hunde nähert sich in einigen Metern Entfernung einer Hauptstraße. Wie für Stadtbewohner üblich, läuft ein Teil der Hunde rasch auf die andere Seite, während der andere Teil aufgrund eines herannahendes Autos anstandslos „Sitz!“ macht.
Nach dem Aufstehen verbringen wir den letzten Tag mit Spazierengehen durch die Altstadt, dem obligatorischen Kauf eines Souvenirs sowie ausgedehntem Speisen in einem feinen, ukrainischen Restaurant. Es gibt sogar eine englischsprachige Speisekarte. Dieses Mal wissen wir, was wir bestellen. Maximilian schlägt in seinem Wörterbuch „danke“ und „bitte“ nach sowie „Mit der Rechnung stimmt etwas nicht“ und „Ich hol‘ dich heute Abend ab“ – einer Unterhaltung mit der Kellnerin steht nichts mehr im Wege. Leider wechselt die Bedienung – Maximilian bleibt stumm.
Abends werden Koffer gepackt, Eier gekocht und ukrainische Essens-Tüten vorbereitet.
Tag 10 – Eine Busfahrt, die ist lustig …
Gegen 9 Uhr mit ukrainischer Verspätung bringt uns ein Taxi zum Busbahnhof. Der Reisebus ist luxuriöser, diesmal wirken beide Busfahrer gut gelaunt – und es gibt sogar Sitzplatzwahl. Es kommen viele Passagiere von Stadt zu Stadt hinzu. Unmittelbar vor Ronny und Steffen nimmt ein Mann auf gleich zwei Sitzen Platz. Er klappt die Lehnen bis zum Anschlag nach hinten und beginnt mit einer Benzinmotorsäge, Bäume zu fällen. Einzig zum Essen wacht er stündlich auf.
In der Dämmerung halten wir an der ukrainischen Grenze. Wieder erklärt sich ein Passagier bereit, das „magic money“ einzusammeln. Einer der Busfahrer und ein Zollbeamter verschwinden mit dem großzügigen Betrag. Einzig die Pässe werden kontrolliert. Es wird unmissverständlich klar gemacht, dass der wohlgenährte Zollbeamte seine gute Laune nicht verlieren dürfe, was heißt, alle Sitze sind weg vom Gang zu schieben, man setze sich aufrecht hin und halte die Dokumente in angenehmer Greifhöhe. Und siehe da: Quasi nonstop sind wir an der polnischen Absperrung – der schwierige Teil ist geschafft.
Nach dem Einsammeln der Pässe durch polnische Beamte wird Ausgang „gestattet“ – sämtliche Koffer werden gründlich durchleuchtet. Eine halbe Stunde draußen stehen, einsteigen, zehn Meter vorfahren, halbe Stunde im Bus warten, zusehen – wie nichts geschieht –, dann Schichtwechsel.
Das ausgewechselte Grenzpersonal steigt zwecks Passkontrolle ein, verlässt uns aber rasch wieder – offenbar ist das Vertrauen in die Vorgängerschicht zurückgekehrt. Anschließend neuerdings aussteigen, nächste Aktion: Busverkehrsstüchtigkeitsprüfung. Endlich! Nach vier Stunden rollen wir weiter gen Heimat.
Tag 11 – … eine Busfahrt, die ist schön
Die Nacht wird zur Qual. Trotz guter Sitze und einer gewissen Beinfreiheit, reißen uns unbequeme Haltung, penetrantes Schnarchen des Wohlbeleibten, Bodenwellen und ruckartige Überholmanöver mit durchgängig überhöhter Geschwindigkeit permanent aus einsetzendem Schlaf. Dementsprechend zermürbt, treffen wir am Vormittag trotz kurzzeitigem Stau eineinhalb Stunden vor Plan in Berlin ein. Ohne Umwege fahren wir mit dem Zug nach Stendal.